Dr. Uwe Neumann im Interview

Vom „Pott“ lernen

Was passiert, wenn die bisherige wirtschaftliche Grundlage einer ganzen Region wegbricht?

Das Ruhrgebiet stand mit Einsetzen der Kohlekrise bereits Ende der 50er Jahre vor der Herausforderung. Montanindustrie sei dank hatte sich der "Pott" zum industriellen Herzen der Bundesrepublik aufgeschwungen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog sich dann der Wandel vom Kohle- und Stahlrevier zum Hort für Dienstleistungen, Bildung und Kultur. Doch nicht allen Städten gelang es, neue Potentiale zu erschliessen. Wir haben mit Dr. Uwe Neumann vom RWI – Leibnitz-Institut für Wirtschaftsforschung gesprochen, um herauszufinden, was die Lausitz vom „Pott“ lernen kann.

Dr. Neumann, welche neuen Beschäftigungsperspektiven eröffnete der Strukturwandel im Ruhrgebiet?

Erfolge wurden bei der ökologischen Sanierung des Reviers und beim Aufbau einer vorher nicht vorhandenen Hochschulinfrastruktur erzielt sowie bei High-Tech-Branchen, die in ihrem Ursprung nicht mit den Montanindustrien verbunden sind.

Zu den Geschäftsfeldern mit Beschäftigungswachstum gehören aktuell verschiedene Dienstleistungsbereiche, wie das Gesundheits- und Sozialwesen, aber auch die unternehmensorientierten Dienstleistungen. Ein starkes Wachstum verzeichnet, wie vielerorts, die Zeitarbeitsbranche.

Welche Stolpersteine erschwer(t)en die Entwicklung in der Region?

Der Blick ins benachbarte Rheinland zeigt: Das Ruhrgebiet hat vor allem mit wirtschaftlichen Anpassungsproblemen zu kämpfen. So ist die Arbeitslosigkeit in den Kernstädten des Reviers, wie Dortmund, Essen oder Duisburg, viel höher als in Köln oder Düsseldorf. Gleichzeitig fällt die Produktivität in den Ruhrgebietsstädten trotz der erheblichen Fortschritte im Industriesektor geringer aus als in den Rheinmetropolen.

Das spiegelt sich auch in der demografischen Entwicklung wieder. Von 1962 bis 2010 nahm die Bevölkerung im Ruhrgebiet um 7,5 Prozent ab – „der Pott“ verlor somit mehr Menschen als heute in der Stadt Bochum wohnen. In anderen Teilen Nordrhein-Westfalens wuchs die Bevölkerung in diesem Zeitraum um 20 Prozent. Durch die Abwanderung von Arbeitskräften und ihren Familien ist das Ruhrgebiet „veraltet“.

Zuwanderung konnte hier nicht gegensteuern?

Die Zuwanderung, beispielsweise durch Gastarbeiter und ihre Familien, erfolgte in andere Gebiete. Der im Vergleich zu den Rheinlandmetropolen geringere Migrantenanteil des Ruhrgebiets ist ein weiteres Kennzeichen für seine mangelnde Wirtschaftskraft und Attraktivität. Das zeigt sich auch am geringeren Anteil an Einwohnern mit einem Hochschulabschluss. Vergleicht man die Großstädte des Reviers mit denen im Rheinland, werden die Schwächen der Ruhrpott-Metropolen sichtbar: Dazu gehören ein niedriger Bildungsstand und ein geringerer Beschäftigungsanteil in hochqualifizierten Dienstleistungstätigkeiten.

Wie beurteilen Sie die Rolle der regionalen Wirtschaftspolitik in diesem Prozess?

Mit Blick auf deren Gestaltungsmöglichkeiten ist sicher eine gewisse Bescheidenheit angebracht. Selbstverständlich „steuert“ die Politik den Strukturwandel nicht, sondern kann allenfalls fördernd oder hemmend einwirken. Nordrhein-Westfalen und die Gebietskörperschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche Anstrengungen unternommen, um den wirtschaftlichen Anpassungsprozess zu erleichtern. Dazu gehören die Gründung und der Ausbau der Hochschullandschaft. Damit wurden die bildungspolitischen Voraussetzungen zur Entstehung einer wettbewerbsfähigen Wirtschaftsregion geschaffen.

Auch die ökologische Erneuerung des Ruhrgebiets und die damit verbundene Steigerung der Lebensqualität stand auf der landespolitischen Agenda ganz weit oben.

Welche zentralen Vorhaben der ökologischen Aufwertung wurden umgesetzt?

Altindustrielle Brachflächen mussten wieder nutzbar gemacht werden. Die Voraussetzungen dafür wurden in den 80er und 90er Jahren vor allem durch Landesinitiativen, insbesondere durch die Internationale Bauausstellung Emscher-Park (IBA,) gelegt. Ein weiteres zentrales Vorhaben ist der mehrere Jahrzehnte umfassende Emscherumbau, der die wasserwirtschaftliche Entwicklung der Emscher-Lippe-Region zum Ziel hat.

Wie hat sich die Wirtschaftspolitik des Landes NRW über die Jahrzehnte hin verändert?

Sie hat einen bemerkenswerten Lernprozess durchlaufen. Stand zunächst die Vorstellung im Vordergrund, dass der vorherrschende Montankomplex auf lange Sicht eine tragende Rolle spielen müsse, wurde ab den 80er Jahren die Förderung neuer Wirtschaftszweige angetrieben. Die Landesregierung baute ein dichtes Netz von Einrichtungen der Gewerbeförderung auf und förderte innovative Unternehmensgründungen und neue Technologien.

Wie ist der momentane Stand?

Unter den gegenwärtigen Bedingungen dürfte die wirtschaftliche Revitalisierung der Ruhrgebietskommunen weiter sehr differenziert voranschreiten. Die Politik muss der Abwanderung jüngerer und höher qualifizierter Arbeitskräfte durch gezielte Wirtschaftsförderung und Städteplanung entgegenwirken. Gleichzeitig gilt es, das Qualifikationsniveau der Bevölkerung zu verbessern und besonders Menschen mit Migrationshintergrund mit Maßnahmen zu erreichen.

Was können Sie den Lausitzern mit auf den Weg geben?

Die Perspektiven des Ruhrgebiets speisen sich vor allem aus seiner geografischen Lage als Teil des größten Ballungsraumes der Bundesrepublik, als Verkehrsknotenpunkt im Zentrum Westeuropas und Sitz wichtiger Konzernzentralen. Auch die Lausitz zeichnet sich durch ihre besondere „Randlage“, ihre Nähe zu Polen und Tschechien sowie zur Bundeshauptstadt aus. Maßnahmen, die in NRW funktioniert haben, können jedoch aufgrund der unterschiedlichen Vorrausetzungen nicht eins zu eins übertragen werden. Sicher haben wir aber Erfahrungen gesammelt, die auch für die Lausitzer von Nutzen sein können.

Wie lauten diese?

Zur Bewältigung des Strukturwandels ist eine aktive Bereitschaft zur Veränderung unausweichlich. Die vom Arbeitsplatzabbau betroffenen Beschäftigten müssen durch Bildungs- und Qualifizierungsangebote unterstützt werden. Die Regionalpolitik sollte zudem alles daran setzen, dass neue Wirtschaftszweige entstehen, welche die Lagebedingungen für sich zu nutzen wissen. Die vorhandenen Industrien sowie die dort betriebene Forschung dürften für die Lausitz viele Anknüpfungspunkte bieten. Schließlich wird die Rekultivierung der Tagebauflächen zu den großen Aufgaben gehören, mit deren Bewältigung sich die Region als lebenswerter Wohnort mit ansprechender Landschaft, interessantem kulturellen Umfeld sowie zukunftsfähigen Industrien einen Namen machen kann.