1924 ließ Bergwerksdirektor Fritz von Delius zum ersten Mal eine Förderbrücke für die Plessaer Grube „Agnes“ bauen. Die speziell für die geologischen Verhältnisse in der Lausitz konzipierte Technologie hat sich seitdem weiterentwickelt. 2024 wird sie 100 Jahre alt. Spätestens mit dem Kohleausstieg 2038 aber wird sie für immer Geschichte sein. Anlass für den Leipziger Künstler Robert Seidel, sich in einer Serie von Gemälden mit der „F 60“ zu befassen. Dabei rücken neben der Technik vor allem die Menschen in den Fokus, die auf der größten beweglichen Arbeitsmaschine der Welt arbeiten.

Der Künstler Robert Seidel zeigt in der Galerie ASPN in Leipzig seine Bilder-Serie „F 60“, Foto: Repro: Sebastian Komnick

Robert Seidel, Jahrgang 1983, hat an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studiert und das Studium als Meisterschüler von Neo Rauch abgeschlossen, dem bekannten Mitbegründer der Neuen Leipziger Schule. Viele Schüler Rauchs orientieren sich an der handwerklichen Kunst, auch an Stil und Sujets alter Meister der Renaissance und des Barock. Robert Seidel tut das insofern, als er die alte Maltechnik mit Ei-Tempera anwendet, die dem Bild einen matten Glanz und den Farben eine besondere Strahlkraft verleiht.

Licht und Schatten eingefangen

Das ist gerade für seine Serie „F 60“ geeignet, weil er hier den scharfen, für einen offenen Tagebau eigentümlichen Kontrast von Licht und Schatten eingefangen hat. Das ist ihm in beeindruckender Weise gelungen, und so hat er in jedem der vier Lausitzer Tagebaue Jänschwalde, Welzow-Süd, Reichwalde und Nochten die Menschen in Szene gesetzt und in den Mittelpunkt gerückt, die hier arbeiten – auf und an der Förderbrücke F 60. Die Maschinenwelt rückt in diesen Porträts in den Hintergrund und ist in der Andeutung von Stahlstreben und Handläufen, einmal sogar mit der Spitze eines Eimerkettenbaggers am F-60-Verbund, doch immer allgegenwärtig.

Original und Gemälde: Jenny Schmidt stieg für Foto und Gemälde von der Förderbrücke in die Grube, Foto: LEAG

Wie Neues entsteht

Mehr als ein Jahr Zeit hat der Künstler sich für die Vorbereitung seiner Arbeiten genommen. Er hat das Lausitzer Revier mit dem Fahrrad erkundet und die Tagebaue umrundet, um ihre Dimension zu fassen. Er hat Bergleute an ihrem Arbeitsplatz getroffen, sich lange mit ihnen unterhalten, sie über die F 60 begleitet, bis hin zum letzten Abwurf, dessen Spitze über die weite Kippenlandschaft ragt wie der Bug eines Ozeanriesen über das Meer. Und er hat am Horizont das Land gesehen das neu entsteht. Große rekultivierte Flächen, die wiedernutzbar gemacht werden für die Landwirtschaft, für junge Wälder und – in besonderem Maße – für die Stromerzeugung der Zukunft nach dem Tagebau. Solar- und Windenergieanlagen im Gigawatt-Maßstab sollen hier nach den Plänen der LEAG schon in den nächsten Jahren entstehen.

Momentaufnahmen inmitten der Arbeitswelt

Wiedersehen an der Förderbrücke: Für das MDR-Fernsehen trafen sich Sigmund Kordian Skalecki und Robert Seidel noch einmal im Tagebau, Foto: LEAG

Bei Robert Seidels Besuchen in der Lausitz war die Kamera immer dabei. Mit ihr hat Robert Seidel schließlich auch die Fotos von zwei Bergfrauen und zwei Bergmännern eingefangen, die er letztlich in vier überlebensgroßen Porträts umgesetzt hat. Es sind keine Heldenporträts. Vielmehr sind es Momentaufnahmen, die inmitten der Arbeitswelt Augenblicke der Ruhe und der Nachdenklichkeit zeigen.

Jenny Schmidt zum Beispiel steht mit geschlossenen Augen in der Grube vor einer Wand aus Braunkohle. Eigentlich ist ihr Arbeitsplatz als Leitstandsfahrerin der F 60 in Nochten weit über dem bis zu 15 Meter mächtigen Flötz, das vom Förderbrückenverband freigelegt wird. Das Bild aber bringt die beiden Ebenen in den Zusammenhang, in den sie gehören – eins bedingt das andere, jeder Arbeitsschritt und jeder Eingriff in die Natur hat Folgen und bringt Verantwortung, der sich die Bergleute bewusst sind und die sie annehmen.

 

Zwiesprache, Verständigung und Verständnis

So darf man auch den Blick verstehen, mit dem Sigmund Kordian-Skalecki auf dem Abwurf in Reichwalde weit über das „Kippen-Meer“ sieht. So fühlt man den stillen Moment, den Sibylle Koall im zimmerpflanzengrünen Pausenbereich des Leitstandes der Förderbrücke in Welzow-Süd mit Fensterausblick auf die Brücke verbringt. Tatsächlich ist Christian Ernst auf der Förderbrücke Jänschwalde der Einzige, der auf seinem Porträt dem Betrachter direkt in die Augen schaut, aber auch dies mit einem Blick, der nichts vom alten „Ich bin Bergmann, wer ist mehr?!“-Stolz hat, sondern Zwiesprache sucht, Verständigung und Verständnis.

Kein Heldenporträt: Fotoshooting mit Christian Ernst auf der Förderbrücke in Jänschwalde, und das spätere Ergebnis auf der Leinwand, Foto: LEAG

Ohne Pathos und Nostalgie

Robert Seidel ist es mit seinen Bildern zur F 60 gelungen, nicht nur ihr selbst und der technologischen Innovation vergangener Jahrzehnte ein Denkmal zu setzen, sondern auch den Bergleuten der Lausitz und einem Berufsstand, den es in Deutschland in der Braunkohle in weniger als zwei Jahrzehnten nicht mehr geben wird. Damit hat er zudem das klassische und nach der politischen Wende im Osten oft als staatsnahe politische Propagandakunst verpönte Arbeiterporträt neu definiert und modernisiert – ohne Pathos, ohne Nostalgie und Abschiedsschmerz, sondern zeitgemäß, mit dem Blick nach innen gerichtet, auf eine Industrie-Gesellschaft im Wandel und in die Zukunft. 

Die Bilder-Serie „F 60“ von Robert Seidel ist noch bis zum 3. Juni 2023 in der Galerie ASPN auf dem Gelände der Alten Baumwollspinnerei Leipzig, Spinnereistraße 9 zu sehen.

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Autor

Thoralf Schirmer

Nachdem ich 20 Jahre als Lokaljournalist in der Lausitz gearbeitet habe, kam ich 2011 als Pressesprecher ins Unternehmen. Seitdem begleite ich alle Themen aus der Region zusammen mit meinem Team.