Von hinten nach vorne sind der Erreger und Generator (in gelb) und Niederdruckturbinenkabinen (in blau) gut zu unterscheiden, Foto: LEAG
Im Kraftwerk Schwarze Pumpe läuft die Zeit. Das Revisionsprogramm des Blocks B für 2019 ist Ende März gestartet. Hier werden die für das Jahr anstehenden Wartungsarbeiten gebündelt abgearbeitet. Dafür ruht die Strom- und Wärmeerzeugung. Dieses Jahr für 56 Tage. Einer der Schwerpunkte des Stillstands liegt diesmal auf dem Retrofit der Niederdruckturbinen.
Dabei ist beim Retrofit, anders als die Vorsilbe meinen lassen könnte, nichts rückwärtsgewandt. Im Gegenteil. „Wir nutzen die Chance gleich die neuste Technologie einzubauen, die auf die heutigen Betriebsbedingungen des Kraftwerksblocks optimal ausgelegt ist“, erklärt Marco Redieß, der hier Teilprojektleiter ist. „Retrofit steht für eine Modernisierung, in unserem Falle für das Einpassen modernster Schaufelgeometrie in eine vorhandene „alte“ Turbine mit dem Ziel der Wirkungsgradverbesserung und der Lebensdauerverlängerung bei reduzierten Instandhaltungskosten“, erklärt Redieß.
Die Oberteile einer der beiden ND-Teilturbinen sind demontiert, Foto: LEAG
Zudem passt diese Art der Modernisierung in den engen Zeitplan der Revision. „Der Dampferzeuger bestimmt die Stillstandzeiten“, erklärt Redieß. Alle fünf Jahre folge für die Wartung des Dampferzeugers ein längerer Stillstand der Anlage. 56 Tage seien diesmal für Block B eingeplant. „Da versuchen wir dann alles andere einzuordnen, auch die Turbinen. Deshalb unterliegen unsere Lösungsansätze mehreren Zwängen wie Reparaturzeit, Wirkungsgradoptimierung und Wirtschaftlichkeit.“ Es gelte, die Balance zu finden. „Wir haben alle Varianten durchgeprüft, verschiedene Lieferanten angefragt, Angebote verhandelt und schließlich eine Entscheidung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten empfohlen.“ Der Vorteil beim Retrofit ist, dass nicht alle Teile ausgetauscht werden müssen. So stehen sowohl neue Innengehäuse, und Leitschaufelträger mit neuer Leitbeschaufelung als auch neue Turbinenläufer bereit – alles in doppelter Ausführung, denn in Schwarze Pumpe sind gleich zwei baugleiche Niederdruckturbinen hintereinander geschaltet im Einsatz.
Hier sind die neuen Niederdruck-Rotoren bereits in die Niederdruck-Turbinen eingesetzt. Gut zu erkennen sind die 3D-Geometrie der sieben Laufreihen, inklusive der freistehenden Laufreihe der letzten Stufe, Foto: LEAG
Die größten Laufschaufeln der Niederdruckteile sind über einen Meter lang. Im Betrieb rotieren die Schaufelspitzen mit einer Geschwindigkeit von fast 600 Metern pro Sekunde bzw. 2.153 km/h. Das entspricht etwa der zweifachen Schallgeschwindigkeit in der Luft. An jeder der insgesamt 64 Laufschaufeln der letzten Niederdruckstufe wirkt eine Fliehkraft von circa 4400 Kilonewton (kN), was einem Gewicht von rund 450 Tonnen gleichkommt. Nicht nur die Turbinenschaufeln selbst müssen diesen Kräften standhalten, sondern auch die Schaufelfüße, die wiederum die Kräfte in den Rotor einleiten. „Bei routinemäßigen Wartungsarbeiten hat sich gezeigt, dass diese Belastung Spuren hinterlassen hat, denen kurz beziehungsweise mittelfristig nur mit einem Ersatz begegnet werden konnte“, sagt Redieß.
Ankunft der neuen Komponenten im Hafen Königs Wusterhausens, Foto: LEAG
Allein die Fertigung für die neuen Niederdruckturbinenteile in Mühlheim an der Ruhr hat mehr als fünf Monate in Anspruch genommen. Ehe die mechanische Bearbeitung in Mülheim auf riesigen Bearbeitungsmaschinen beginnen konnte, mussten die Schmiedeteile für die Niederdruck-Rotoren als auch Stahlgussteile und Schweißkonstruktionen mit einer Lieferzeit von teilweise mehr als zwölf Monaten weltweit beschafft werden. Am 12. und 13. März sind die einbaufertigen Großkomponenten in Schwarze Pumpe angekommen: Mitten in der Nacht und völlig unaufgeregt per Schwertransport. „Da das Revisionszeitfenster feststeht und nicht kurzfristig verschiebbar ist, musste mit ausreichenden Sicherheiten geplant werden“, berichtet Redieß. „So haben wir beispielsweise bewusst eine Anlieferung vier Wochen vor Revisionsbeginn vereinbart. Dieser Zeitpuffer war zwischenzeitlich nahezu aufgebraucht, konnte aber wieder auf über zwei Wochen vergrößert werden.“
Hier steht der neue Niederdruck-Rotor, auch Läufer genannt. Über diesen wird die Energie des Wasserdampfes über die Schaufeln in eine rotierende Bewegungen übertragen und an den Generator weitergegeben, der nach dem Prinzip des Fahrraddynamos aus der Bewegungsenergie Elektrische macht, Foto: LEAG
Seit dem 30. März läuft die Umsetzung der Planung. Zunächst wurden die Überströmleitung und die Oberteile der Außengehäuse der Niederdruckturbinen demontiert und dann die Arbeiten an den Innengehäusen fortgesetzt. „Wir bauen wie bei einer Matroschka erstmal oben alles von außen nach innen ab“, erläutert Redieß. „Um Zeit zu sparen wird dann nach dem Ausfahren der alten Niederdruck-Rotoren allerdings das dazugehörige komplette Innengehäuse am Stück herausgenommen und nicht einzeln nacheinander zurückgebaut. Der Austausch spart Zeit, da im neuen Bauteil zum Beispiel bereits die Leitbeschaufelung vormontiert ist und im Werk Mülheim komplett vorausgerichtet wurde. Somit müssen nur noch die insgesamt jeweils vier Rohrleitungen für den Anzapfdampf an die Unterteile der neuen Innengehäuse angeschweißt werden. Dann wird alles rückwärts mit den neuen Niederdruck-Rotoren, Leitschaufelträger- und Innengehäuseoberteilen montiert. Zuerst wird die neue Biegelinie des gesamten Läuferstranges mit einer Toleranz von wenigen hundertstel Millimetern an den Kupplungen ausgerichtet. Dann erfolgt die Feinausrichtung der statischen Bauteile zu den Niederdruck-Rotoren mit einer Genauigkeit von ca. 0,1 Millimetern.“ Nur 48 Tage netto blieben für den Austausch.
Die Oberteile der Niederdruck-Innengehäuse sind bereits montiert. Als nächster Schritt erfolgt noch die Montage der Oberteile der Außengehäuse, der Montage und Anpassung der Kompensatoren sowie der Überströmleitungen. In dieser Phase erfolgt auch die Feinausrichtung des Läuferstranges und der Innengehäuse, Foto: LEAG
Trotz der räumlichen und zeitlichen Enge darf es zu keinerlei Berührungen oder Zusammenstößen kommen, denn gerade durch die Masse sind die Bauteile empfindlich. Es würde sich sofort irgendetwas verbiegen. „Die Gefahr, dass dabei ein größerer Schaden entsteht, ist groß. Das gilt es unbedingt zu vermeiden, denn Ersatz müsste extra angefertigt werden und würde den engen Terminplan sofort gefährden.“ Für 200.000 Betriebsstunden sind die neuen Innenblöcke der Niederdruckturbinen mindestens ausgelegt. Dabei halten sie in der Regel auch länger, da natürlich ausreichende Sicherheiten eingeplant sind.“ Wenn alles nach Plan läuft, startet Block B am 25. Mai wieder durch.
Lust auf mehr Bilder? Lausitz TV war im Kraftwerk Schwarze Pumpe und hat Redieß Kollegen vor Ort über die Schulter geschaut, zum Bericht.