Internationales Jugendcamp gibt Kriegsgefangenen Identität

Expertin Alexandra Grochowski
Alexandra Grochowski

Die gebürtige Polin ist mit einem Jahr als Spätaussiedlerin mit ihren Eltern von Oberschlesien nach Deutschland gekommen. Sie wuchs in Hessen auf, suchte aber mit 16 wieder den engeren Kontakt zu ihren polnischen Wurzeln und der polnischen Sprache. Sie arbeitete unter anderem im Edith-Stein-Haus in Breslau und absolvierte in Zittau ein Studium zur Übersetzerin für Polnisch, Englisch und Deutsch. Seit 2013 ist die 28-Jährige für die Geschichtsarbeit des Vereins Meetingpoint Music Messiaen verantwortlich, der seinen Sitz am Demianiplatz 40 in Görlitz hat. 

Dass Musik Menschen verbindet, ist kein Gemeinplatz. Für die Geschichte der Stadt Görlitz und des einstigen Kriegsgefangenen-Stammlagers VIII A ist es eine Tatsache. Am Beginn steht das Quartett „Für das Ende der Zeit“ von Olivier Messiaen geschrieben und uraufgeführt im Stalag VIII A. Diese Musik weckt Anfang der 2000er-Jahre das Interesse des Regisseurs und Komponisten Albrecht Goetze für den Ort, an dem sie entstand. Doch er findet kaum noch etwas vor vom ehemaligen Lager und wenig in der Erinnerung der Görlitzer. Um es in die Erinnerung auch für spätere Generationen zurückzuholen, gründet Goetze 2006 den Verein Meetingpoint Music Messiaen und baut damit auf den Pfeilern von Musik und Geschichte eine deutsch-polnische Brücke über die Neiße. Heute setzen junge Menschen aus aller Welt diese Arbeit fort – unter anderem mit einem Projekt, das nun schon das dritte Jahr in Folge auch von der Stiftung Lausitzer Braunkohle finanziell unterstützt wird.   

„Worcation – European Youth works European History“ heißt das archäologische Projekt. Die Ausgrabungsstätte liegt in einem Wäldchen auf dem Gelände des ehemaligen Kriegsgefangenen-Stammlagers (Stalag) VIII A in Zgorzelec-Ujazd, auf der polnischen Seite der seit dem Krieg geteilten Stadt Görlitz. Von einem der Hauptwege des Lagers, die noch zu erkennen sind, führt ein schmaler Pfad zu den zwei fachgerecht im Quadrat ausgehobenen Gruben. Der Boden ist weich und rutschig vom Regen der vergangenen Tage. Die Luft ist schwül und voll lästiger Insekten. Aber den Arbeitseifer der Jugendlichen, die hier Tag für Tag die „Puzzlesteine“ einer verschütteten Geschichte bergen, kann das nicht bremsen.

Die jungen Leute sind mit Eifer bei der Sache. Im Hintergrund Sabine Brumma. Foto: LEAG 

Einige Hundert Fundstücke

Die Fundstücke werden später, gesäubert und nach Ausgrabungstagen geordnet, im „Europäischen Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur“ ausgelegt, das als ständige internationale Erinnerungs- und Begegnungsstätte auf dem ehemaligen Lagergelände errichtet worden ist. Sie müssen nun noch registriert und für die Übergabe an das Muzeum Łużyckie (Lausitzmuseum) vorbereitet werden. Es sind einige Hundert allein in diesen zwei Wochen, darunter manches, das sich fast sicher dem Kriegsgefangenenlager zuordnen lässt. Ein Kamm zum Beispiel, angefertigt vermutlich aus der Kunststofffolie einer Kartenmappe. Ein paar handgeschnitzte Dominosteine, zahlreiche Knöpfe, eine polnische 50-Groszy-Münze von 1923, nummerierte Seifenstücke, sogar ein seltenes deutsches Koppelschloss. „Es ist ein sonderbares Gefühl, diese Dinge in der Hand zu halten. Man begreift dann erst, dass hier wirklich Menschen gelebt haben und zur Arbeit gezwungen wurden“, sagt die 17-Jährige Aleksandra Rybak aus Breslau. Sie ist über ihre Schule auf das internationale Jugend-Projekt aufmerksam geworden. „Leider haben wir diesmal keine Erkennungsmarke gefunden. Das wäre der beste Fund, denn wenn wir eine Marke haben, können wir auch die Familie dieses Kriegsgefangenen finden.“

Einige Hundert Fundstücke haben die jungen Leute in zwei Wochen freigelegt. Foto: LEAG

Sprachenvielfalt im Camp

Die 22 Teilnehmer am Worcation-Camp kommen aus verschiedenen Ländern Europas und manche sogar von noch weiter her, so wie die Kriegsgefangenen, die vor mehr als 70 Jahren hier zusammengepfercht lebten. Die Jugendlichen arbeiten hier, verbringen gemeinsam ihre Freizeit, unternehmen Ausflüge, feiern Grillabende oder gehen Baden am nahe gelegenen Berzdorfer See. Verständigungsschwierigkeiten gibt es kaum. Viel geht auf Englisch, anderswo helfen ausgebildete deutsch-polnische Übersetzer, und tatsächlich findet sich mit dem 16-Jährigen Äthiopier Raage Abdi Khalif sogar jemand, der zwischen Arabisch und Deutsch vermitteln kann.   

So etwa, aber unter ganz anderen Bedingungen, muss man sich wohl auch die Sprachenvielfalt und die Verständigung im damaligen Stalag vorstellen – gefangene Soldaten aus der Sowjetunion, Jugoslawien, Polen, aus Belgien, Frankreich, Italien und Großbritannien bildeten eine Zwangsgemeinschaft, litten gemeinsam, versuchten zu überleben. Und doch starben viele von ihnen an den schlechten Lebensverhältnissen, an Hunger und Kälte.

Über 120.000 Kriegsgefangene waren im Stalag registriert. Foto: LEAG

„Nach den Zahlen, die wir vom Roten Kreuz bekommen haben, wissen wir, dass über 120.000 Kriegsgefangene in diesem Lager registriert waren. Die Höchstbelegung lag zeitweise bei 40.000“, sagt Alexandra Grochowski, Koordinatorin für Geschichtsarbeit im Verein Meetingpoint Music Messiaen. „Von den meisten Gefangenen ist heute nichts mehr bekannt. Allein auf dem sowjetischen Friedhof liegen zwischen 3.000 bis 7.000 Menschen begraben. Manche sagen sogar, es müssten ungefähr 10.000 sein. Aber wir haben bislang nur 50 Namen sowjetischer Soldaten ermitteln können.“

Geschichte besser verstehen

Es ist eine mühevolle Arbeit in kleinen Schritten. Aber viel sei schon dadurch gewonnen, meint Alexandra Grochowski, dass immer mehr Görlitzer sich auch diesen Teil ihrer eigenen Zeit- und Stadtgeschichte wieder bewusst machen und nicht mehr nur sagen „Ach ja, das Lager da drüben in Polen.“ Und mit jedem Kriegsgefangenen, dem der Verein mit seiner Arbeit die Identität zurückgeben kann, wachse die Akzeptanz und auch das Interesse weiterer Familien, die nach dem Schicksal ihrer Angehörigen forschen.

Jede Metallmaske steht für einen namentlich bekannten Gefangenen. Foto: LEAG 

In diesem Sommer war es beispielsweise Marie Hecquet, eine junge Frau aus Belgien, die auf der Suche nach dem Grab ihres Großvaters in Görlitz mit den Geschichtscamp-Teilnehmern zusammentraf. Das Grab von Marcel Hecquet, der im Kriegsgefangenenlager gestorben war, ließ sich zwar nicht mehr auffinden, aber die Jugendlichen entschieden spontan, anhand von Fotos, die die Enkelin bei sich hatte, auch ihm wieder ein Gesicht in der Erinnerungsstätte von Stalag VIII A zu geben.

Zusammenarbeit mit einem Künstler 

Das geschieht wenige Kilometer weiter in Weinhübel auf einem ehemaligen Fabrikgelände. Hier arbeitet der Künstler Matthias Beier mit einer Gruppe von Jugendlichen aus Italien, Somalia, Äthiopien und Moldawien an Metallmasken. Jede von ihnen steht für einen der namentlich bekannten Gefangenen, die im Görlitzer Lager umgekommen sind. Und dort, in der Erinnerungsstätte sollen die Abbilder auch zu sehen sein.

Der Künstler Matthias Beier hat Plastiken zur Messiaens Musik entworfen. Foto: LEAG 

Für Beier, der sich mit Albrecht Goetze eng verbunden fühlte und der für das Stalag-Gelände auch Plastiken zu Messiaens Musik entworfen hat, ist die Arbeit mit den Jugendlichen im Workshop sozusagen die Pflege eine Vermächtnisses. Für die Jugendlichen ist es eine willkommene und spannende Kombination aus handwerklicher Praxis, Kunst und dem Kennenlernen geschichtlicher Zusammenhänge, wie der 19-jährige Mouhicine et Tali aus Italien sagt.

Genau das ist es auch, was die Stiftung Lausitzer Braunkohle dazu bewogen hat, das Projekt „Worcation – European Youth works European History“ bereits im dritten Jahr in Folge zu unterstützen. Sabine Brumma, Projekt-Koordinatorin der Stiftung, hat die Jugendlichen vor Ort in Görlitz und Zgorzelec besucht. Sie ist sich sicher: „Hier ist das Stiftungsgeld gut investiert in die Geschichtsbildung und die internationale Verständigung junger Menschen.“

Themen

Teilen

Autor

Thoralf Schirmer

Nachdem ich 20 Jahre als Lokaljournalist in der Lausitz gearbeitet habe, kam ich 2011 als Pressesprecher ins Unternehmen. Seitdem begleite ich alle Themen aus der Region zusammen mit meinem Team.