In einem See spazieren gehen – ohne Taucherausrüstung oder Badebekleidung und sogar die Füße bleiben trocken? Das geht tatsächlich – am Cottbuser Ostsee. Das Seebett wird derzeit aus dem ehemaligen Braunkohlentagebau Cottbus-Nord geformt. Doch schon bald, im Winter 2018/2019, soll die Flutung beginnen. Das hat die LEAG zum Anlass genommen, einmalig und letztmalig zum Spaziergang auf dem Seeboden einzuladen. Ein Tag auf der derzeit größten Erdbaustelle Europas.
Um 7 Uhr klingelt der Wecker und… die Sonne scheint von einem mäßig bewölkten Himmel. Ich bin erleichtert. Jeder, der schon einmal eine größere Veranstaltung im Freien geplant oder auch besucht hat, kennt dieses Gefühl vermutlich. Von meinen Kollegen aus dem Organisationsteam, die den "Tag der offenen Baustelle" seit mehreren Wochen vorbereiten, weiß ich, dass mit gut 5.000 Besuchern gerechnet wird. Einer davon werde ich sein. Ich bin gespannt und drücke die Daumen für gutes Gelingen.
Querfeldein – kein Problem mit den MTWs, Foto: LEAG
Mit 320 PS zum Seeboden
Mit Sonnenbrille und Regenjacke im Gepäck – sicher ist sicher – breche ich zu den Tagesanlagen des Tagebaues Jänschwalde auf. Von hier startet der Shuttleverkehr in Richtung Festgelände auf dem künftigen Seegrund. Der Parkplatz ist schon gut gefüllt. Dutzende Menschen warten an den Bushaltestellen, von denen aus normaler Weise die Kollegen aus dem Tagebau Jänschwalde an ihren Arbeitsplatz gebracht werden. Heute strömen Besucher in die Mannschaftstransportwagen (kurz MTWs), die zur Unterstützung auch aus den Tagebauen Welzow-Süd, Nochten und Reichwalde gekommen sind. Elf große Offroad-Busse, die jeden SUV locker in den Schatten stellen. Dazu vier normale Busse, die die Besucher bis zum Festgelände bringen. Ich finde noch einen freien Platz in einem der MTWs und unter dem tiefen Brummen von 320 PS setzen wir uns kurze Zeit darauf in Bewegung.
Auf Tauchstation
Der mittlere Seewasserstand soll einmal bei 62,5 Meter NHN liegen, Foto: LEAG
Im Fahrzeug herrscht erwartungsvolles Murmeln, vermutlich bemerken nicht alle den Moment, an dem wir über die langgezogene Uferböschung des künftigen Cottbuser Ostsees schaukeln. Das Gelände ist flach, sandig und sporadisch mit Gras und Gebüsch bewachsen. Aber am Festgelände angekommen ist allen klar: Jetzt sind wir auf Tauchstation. Eine Wassersäule zeigt den geplanten mittleren Seewasserstand an: 62,5 Meter über dem Meeresspiegel bzw. circa 90 Zentimeter über meinem Scheitel. Beeindruckend – ebenso wie die 19 Quadratkilometer Wasserfläche, die den Ostsee zum größten See Brandenburgs machen werden, die 26 Kilometer Uferlinie oder die 126 Millionen Kubikmeter Fassungsvermögen.
Große Maschinen für kleine und große Jungs
Es zieht mich weiter zur Baumaschinenausstellung. Große Bagger und Dumper – und große Augen nicht nur bei den Kleinsten, die selbst hinter dem Steuer Platz nehmen durften. Allein das Zusehen – unbezahlbar. Dazu Piratenschiff-Hüpfburg, Luftballontiere, Ausblick vom Hubsteiger der Werksfeuerwehr und Allerlei für das leibliche Wohl. Aber ich muss mich ein bisschen beeilen. Ich habe eine Karte für die nächste Rundfahrt in der Hosentasche, die ich keinesfalls verfallen lassen will, denn inzwischen wächst die Schlange am Tourenstand.
Große Baumaschinen sorgen für Begeisterung in allen Altersklassen, Foto: LEAG
Erdbau in Präzisionsarbeit
Der Tagebau Cottbus-Nord, in dem 35 Jahre lang Braunkohle gefördert wurde, hat sich rasend schnell verändert. Am 23. Dezember 2015 verließ der letzte Kohlezug die Grube. Ein Jahr später war bereits die gesamte Bergbautechnik verschwunden; Großgeräte, Bandanlagen, Gleise. Im Frühjahr 2017 haben rund 150 Baumaschinen, darunter Dumper, Bagger und Planierraupen die Regie übernommen. Sie tragen den Seeboden noch soweit ab, dass auch bei Niedrigwasser eine Mindestwassertiefe von zwei Metern gewährleistet ist. Rund 20 Millionen Kubikmeter Erdreich müssen dafür bewegt werden. Mit dem Großteil davon wird die frühere Tagebauausfahrt für Kohlezüge verfüllt. Bis zu 40 Meter Höhenunterschied müssen dabei ausgeglichen werden. Diese Arbeiten erledigen die Firmen Bickhardt Bau und Baumaschinen-Hoffmann für die LEAG.
Mit dem MTW geht es zur Station mit dem vielversprechenden Namen „Herstellung Seeboden und Verfüllung“. Dahinter verbirgt sich eine logistische Glanzleistung. Material ablösen, aufladen, transportieren, abladen und wieder einbauen. Jeder der allein rund 100 Dumper hat eine Farbtafel an Bord, die ihm verrät, welche Planierraupe mit gleicher Farbmarkierung im Zielgebiet anzusteuern ist. Zusätzliche Farbtafeln im Gelände dienen als weitere Wegweiser. So ist gewährleistet, dass jeder Abschnitt gleichmäßig mit Füllmaterial bedient wird. Mit Unterstützung von GPS stellen die großen Geräte, die in der weiten Landschaft eher wie Ameisen wirken, zentimetergenau die erforderlichen Höhen her. Trotz der Dimensionen erinnert der Anblick an ein Uhrwerk, in dem alles präzise ineinandergreift. Kolonne für Kolonne für Kolonne.
Torsten Schmidt vom Ingenieurbüro BIS (vorn) im Gespräch mit Stephan Lenk, Foto: LEAG
Nichts dem Zufall überlassen
Torsten Schmidt vom Ingenieurbüro BIS und zuständig für die Bauüberwachung erklärt nicht ohne Stolz, dass auf dieser riesigen Baustelle bisher unfallfrei gearbeitet wird und klopft dabei auf das Holz der Absperrung. Klar ist, hier wird nichts dem Zufall überlassen, das System ist bis ins Detail durchdacht. Stephan Lenk aus Kathlow ist sichtlich beeindruckt. Er hält den Tagebauen im Norden von Cottbus bereits seit vielen Jahren die Treue, kommt immer wieder vorbei und schaut, was es Neues gibt. Sogar beim Aufschluss des Tagebaus Jänschwalde in den 1970er Jahren sei er schon vor Ort gewesen, erzählt er. Heute auf dem Seeboden unterwegs zu sein, ist für ihn ein einmaliges Erlebnis.
Gerüttelt, nicht gerührt
Im Vordergrund ein Modell – im Hintergrund der Originalkran für die Rütteldruckverdichtung, Foto: LEAG
Mein nächster Stopp führt mich ans Ostufer. Hier erklärt mein Kollege Torsten Bahl, warum der Uferbereich, der von den Tagebaugroßgeräten geschüttet wurde, im Gegensatz zu den anderen Böschung zusätzlich stabilisiert wird. „Die lockere Lagerung der runden Sandkörnchen könnte ohne weitere Maßnahmen dazu führen, dass die Uferböschungen später wegfließen. Daher bewegen wir die Körnchen dazu, sich wieder schön eng aneinander zu kuscheln.“ Ein schöne Beschreibung für das Verfahren der Rütteldruckverdichtung. Wir erfahren, dass die eigentliche Verdichtung nicht beim Absenken der Rüttlergarnitur in den Boden erfolgt, sondern beim Herausziehen. 50 Zentimeter ziehen, 30 Sekunden verdichten und so weiter. Die Sandkörnchen rutschen durch die Schwingungen des Rüttlers enger zusammen und der Platz, der dabei entsteht, wird von oben nachverfüllt und -verstopft. So entsteht nach 45-60 Minuten eine unterirdische Säule.
Circa 120.000 Säulen werden in einem Rasterabstand von 3,5 Metern hergestellt und bilden gemeinsam einen unterirdischen Damm, der das Ostufer stabilisiert. Etwa 66.000 dieser Säulen stehen bereits im Untergrund. Das entspricht 23 Millionen Kubikmetern verdichtetem Erdreich. Halbzeit. Während Schautafeln zeigen, was im Boden passiert, ist für uns als Besucher auch der riesige Kran beeindruckend, an dem der Rüttler mit den Aufsatzrohren aufgehängt ist. Herr Bahl lässt uns das Gewicht schätzen, was ziemlich daneben geht. 40 Tonnen? 200 Tonnen? Nein, es sind 650 Tonnen. Schätzen war noch nie meine Stärke – aber das geht zum Glück nicht nur mir so.
Aufstieg zur Insel
Die letzte Station meiner Tour ist die kleinere der beiden Ostseeinseln, die im vergangenen Jahr fertiggestellt wurde. Heute, ohne Wasser, wirkt sie eher wie eine Anhöhe, die ich nun „erklimme“. Oben erwarten mich Sandstrand, Sonnenschirme, Liegestühle und eine Beachbar. Den Ausblick Richtung Westufer und Merzdorfer Turm mit Strandatmosphäre zu genießen, ist eine weitere Besonderheit dieses Tages. Nach der Flutung soll das Ostufer mit den Inseln nämlich vor allem der Natur vorbehalten sein. Das heute ist also eine Ausnahme. Und ein toller Abschluss für die Tour. Das finden auch die Geschwister Hartmuth Wicht und Monika Richter aus Cottbus und Haasow, die es sich gerade mit einem Cocktail von der Bar (selbstverständlich alkoholfrei) gemütlich gemacht haben. Sie sind mit ihrer Mutter Inge zum Tag der offenen Baustelle gekommen. Sie ist 84 und erzählt mir, dass sie unbedingt die Gelegenheit nutzen wollte, selbst einmal Ostsee-Sand unter den Füßen zu haben und sich den See auf diese Weise anzusehen. Für das sympathische Gespann ist das etwas ganz Besonderes. Das freut mich umso mehr, da Herr Wicht von der einen oder anderen abenteuerlichen Reise berichtet, die er unternommen hat. Ich fühle mich stellvertretend für den künftigen Ostsee ein bisschen geehrt, dass unser Seeboden-Event da so positiv mithalten kann. Wir verabschieden uns nach einer Weile und ich hoffe, dass die Drei Mitte der 2020er Jahre, wenn der See fertig geflutet ist, noch mal zusammen herkommen.
Der Weg zur kleinen Ostsee-Insel, Foto: LEAG
Fast 10.000 Besucher
Strandgefühl auch ohne Wasser, Foto: LEAG
Den Rückweg trete ich zu Fuß an, denn zwischen der kleinen Insel und dem Festgelände liegt ein anderthalb Kilometer langer Powerwalk mit kleinen sportlichen Herausforderungen, Hindernissen und Parcours. Eine gute Möglichkeit, um noch einmal ausgiebig Seebodenluft zu schnuppern. Leider zieht der Himmel immer weiter zu und ich ahne bereits, dass ich heute wohl die Sonnenbrille doch noch gegen die Regenjacke tauschen muss. Eine halbe Stunde später ist es soweit, leider. Am Festzelt erfahre ich noch, dass statt der erwarteten 5.000 doppelt so viele Besucher gekommen sind – fast 10.000! Für viele war das vermutlich mit Wartezeiten an den MTW-Haltestellen verbunden. Und wenn ich sehe, wie stark es jetzt regnet, ist für einige der Besuch am Seeboden vermutlich nicht trocken zu Ende gegangen. Ich hoffe trotzdem, dass dieser Ausflug auf den Grund des Cottbuser Ostsees in guter Erinnerung bleibt. Ich jedenfalls möchte in ein paar Jahren gerne auf die Wasserfläche zeigen und sagen: „Da hinten rechts habe ich Seilspringen gemacht.“
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